09.01.-31.01.2016

Jürgen Beck - Escape Architecture

FR 08.01.2016, 19.00 Uhr
Eröffnung der Ausstellung

SO 10.01.2016, 15.00 Uhr
Künstlergespräch mit Jürgen Beck und Michael Sutter (Leiter Kunsthalle Luzern)

über die ausstellung

„ […] the buildings don’t fall into ruin after they are built but rather rise into ruin before they are built. This anti-romantic mise-en-scène suggests the discredited idea of time and many other ‚out of date’ things.“(1)

Neun grossformatige Fotografien der Serie Escape Architecture hängen an den vier abgeschrägten, mit Pilastern rhythmisierten Wänden der Kunsthalle Luzern. Die Strenge der vertikalen Achsen der Pilaster mit ihren hohen, vorgeblendeten Sockeln steigern noch die Konstanz der fotografischen Serialiät. Dabei muten die Fotografien für sich genommen zunächst nicht abgekühlt an; im Gegenteil, in grossen Lettern tragen sie erbauliche Titel wie Everybody Wins, Things Change, Kiss Me Goodbye, Pure Luck. Es sind die sentimentalen Namen von Filmen aus den Achtziger- und Neunzigerjahren, die damals kaum jemand kannte, und an die sich heute noch weniger erinnern. Was wir zu sehen bekommen, sind jedoch keine kultischen Stills, keine vergilbten Werbeplakate; nichts, was den einen oder anderen Film in Erinnerung rufen könnte, sondern die Vorderseite der im Atelier abfotografierten Presskits.

Studios und Produzenten bewerben damit ihre Filme bei Vertrieben und Kinos, sie sind Dokumente jenes Unterfangens, dem im Fall dieser Filme kein Erfolg beschieden war: der profitablen Vermarktung. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass – von den typographisch individualisierten Filmtiteln abgesehen – die Presskits clean und gleichförmig erscheinen. Die Schatten lassen erkennen, dass es sich bei den Motiven um Objekte mit Tiefe handelt, aber dennoch fällt es zuweilen schwer zu bestimmen, wo Presskit und Hintergrund aufeinandertreffen. Sie sind hier keine found objects mehr, die uns auf die Spur ihrer auratischen Patina locken, sondern Fotografien davon, flach und slick. Falten und Knicke im Material, der Index ihrer Zirkulation, verweisen zwar darauf, dass sie verwendet wurden, mehr Hinweise auf ein Kino oder eine Person, die sich die Mappe angeschaut haben könnte, enthalten sie dennoch nicht; keine Telefonnummern, keine Notiz.

Der Raum mit den Presskits wird auf der linken Seite von einer Stirnwand flankiert, an der wir auf eine Spielart jener Architektur stoßen, die der Serie der Presskits ihren Namen gab. Das grosse Bild Mall (Miami Beach), 1933 zeigt einen engen Ausschnitt einer Fassade eines Kaufhauses in Miami Beach. Doch der Ausschnitt allein reicht nicht aus, das Gebäude als Kaufhaus zu identifizieren. Auf allen vier Seiten angeschnitten, lassen sich zwei schwarze Markisen, zwei Fenster und in der Mitte ein kannelierter Pilaster erkennen, leicht an die Pilaster der Kunsthalle erinnernd. Dass uns die Art des Gebäudes verborgen bleibt, bedingt sich jedoch nicht bloss durch den fragmentarischen Charakter der Fotografie, sondern besonders durch die starke Spiegelung der Fenster, die keinen Einblick in das Innere gewährt und stattdessen den Raum vor der Architektur zeigt. Die fotografierte Situation erinnert an eine Passage aus Ultramoderne von Robert Smithson: „ […] the ’thirties are built on ideas that could only have originated in the illusionary depths of The Mirror of Mirrors.“

Für Smithson ist die amerikanische Architektur der Dreißigerjahre eng verknüpft mit der Idee der Spiegelung, doch die bleibt weit hinter den Erwartungen zurück: „The mirror promises so much and gives so little, it is a pool of swarming ideas or neoplatonic archetypes and repulsive to the realist. It is a vain trap, an abyss.“(2) Spiegelung bedeutet für Smithson eine Falle, eine Illusion, und eine daran gebundene Verfremdung der Realität. Dass Jürgen Becks Fotografie eines amerikanischen Kaufhauses der Dreissigerjahre just so starke Spiegelungen zeigt, scheint ein ergiebiger Zufall zu sein. Das Verhältnis zu Smithson bleibt metaphorisch. Wie sehr das Kaufhaus und seine spektakuläre Warenwelt eine illusorische Ausflucht aus dem Alltag und gar eine Verfremdung der Realität markieren können, wird dennoch deutlich, wenn wir an die Zwiespältigkeit jener Jahre der Great Depression denken, in der unzählige Amerikaner arbeitslos wurden und das Lohnniveau dramatisch abstürzte. Das benachbarte kleinere und stillere Bild Lager (Miami), 1940 scheint uns an diese prekären, kommerziellen Strukturen erinnern zu wollen.

Den beiden Fotografien ist ein schlichter Tisch vorangestellt, auf dem sich drei Heliogravüre-Platten befinden. Bar (Tides, Miami Beach, 1936), Lobby (Eden Roc, Miami Beach, 1955) und Terrazzo (Eden Roc, Miami Beach, 1955) eröffnen den Blick ins Innere, machen die „interiors of gloss and glass“(3) sichtbar, die uns das Bild der Mall zuvor verborgen hielt. So stellen sie einen Blick in das Innere der Konsumkultur der Zwanziger- bis Fünfzigerjahre dar, zu der ebenso Hotels und Bars gehörten. Darüber hinaus greifen die Heliogravüre-Platten das Kupfer als Trägermaterial auf, das in der Zeit ihrer Motive eine bedeutende Rolle als Werkstoff spielte: Bar (Tides, Miami Beach, 1936) selbst zeigt einen Ausschnitt aus einem handgearbeiteten Kupferrelief. Ambivalenter verhält es sich mit Terrazzo (Eden Roc, Miami Beach, 1955), denn die prächtigen Terrazzoböden, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in aufwendiger Handarbeit gegossen und geschliffen werden mussten, wurden in den Fünfzigerjahren zunehmend als Terrazzoplatten industriell hergestellt und wie Fliesen verlegt.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Stirnwand, in dem kleinen Nischenraum rechts des Eingangs, treffen wir schliesslich auf zwei kleinformatige Fotografien von Kinos – Odeon (UK, 1937) und Lyceum (Glasgow, 1938); jenem Typ von Architektur, für den Esther McCoy ursprünglich den Begriff Escape Architecture geprägt hatte: „It is escape architecture […] It was the oasis between bread lines and relief checks, it washed away the guilt of failure.“(4) Die beiden Bilder sind dokumentarischer als die anderen Fotografien in der Ausstellung. Sie zeigen die typische Architektur einer Epoche, in der das Versprechen des Kinos, ein Teilversprechen der Moderne, noch galt. Das Kino sollte eine Ausflucht aus der Beschleunigung der Welt sein, die anonyme Intimität des Kinosaals eine klar geregelte, spektakuläre Synkope im Alltag der Besucherinnen.

Jürgen Becks Fotografien spielen mit der Nostalgie für „ ‚out of date’ things“: den Presskits gescheiterter Filme, dem dekadenten Prunk alter Bars und Hotels und der Architektur von Malls, Warehouses und Kinos. Doch die Funktion seiner mise-en-scène ist nicht das sentimentale Reenactment der Ausflucht aus dem Alltag, für die diese Motive historisch stehen, sondern ein dokumentarisches Interesse an den kommerziellen Strukturen, in welche die fotografierten Formen und Architekturen bis ins kleinste Detail eingelassen sind. (Autor: David Misteli)

(1) Robert Smithson, A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey (1967), in: Robert Smithson: The Collected Writings, ed. by Jack Flam. Berkeley 1996, S. 72. (2) Robert Smithson, Ultramoderne (1967), in: Robert Smithson: The Collected Writings, ed. by Jack Flam. Berkeley 1996, S. 63f.. (3) Ebd., S. 64. (4) Esther McCoy, The Wiltern Theater, in: Piecing together Los Angeles: An Esther McCoy Reader, ed. by Susan Morgan. Valencia, CA 2012, S. 262.

www.juergenbeck.com

ausstellungskarte

Jürgen Beck - Escape Architecture

für die unterstützung danken wir