23.6. - 13.8.2023

Olivia Abächerli – the center and the other

DO 22.06.2023, ab 19.00 Uhr
Vernissage: Begrüssung & einleitende Worte zur Ausstellung: Michael Sutter, Leiter Kunsthalle Luzern

MI 05.07.2023, 18.30 Uhr
Doppelführung & Diskussion: Museum Bourbaki Panorama & Kunsthalle Luzern
Mit Olivia Abächerli (Künstlerin), Etienne Wismer (Kunsthistoriker), Irène Cramm (Museumsleiterin Bourbaki Panorama) und Michael Sutter (Leiter Kunsthalle Luzern)
Teilnahme kostenlos / keine Anmeldung notwendig

SO 13.08.2023, 14.00 bis 17.00 Uhr
Finissage und Gespräch:
15.00 Uhr: TALK mit Künstlerin & Kurator

über die ausstellung

Für ihre erste institutionelle Einzelausstellung in der Zentralschweiz widmet sich Olivia Abächerli ortsspezifisch dem historischen Gebäude mit dem Bourbaki-Panorama: das Panorama steht sinnbildlich für die Kunstform der Aufklärung – der allwissende Mensch, das ‘neutrale Subjekt’ steht im Zentrum und geniesst die volle Übersicht über die Welt. Dieses aufklärerische Weltbild wird in aktuellen Debatten in der Wissenschaft, Philosophie oder Sozialanthropologie hinterfragt und es wird stattdessen eine ‘Mehrperspektivität’, das Existieren vieler Perspektiven anerkannt. Genau diese Multiplizität von Perspektiven – und dabei das Einordnen seiner eigenen Position als eine unter vielen – ist ein Kerninteresse, das sich durch die künstlerische Arbeit von Olivia Abächerli hindurchzieht und im Ausstellungstitel «the center and the other» angedeutet wird.

«Wie werden wir sozialisiert, geformt, geprägt, in welchem Kontext stehen wir und was hat das zu bedeuten? Wo stehe ich im Bezug zu dir, zur Familie, zur Klimakrise, im Bezug zu einem Stück Kuchen oder zu einem Kieselstein? Erst wenn ich das spezifische an meiner Position und meiner Perspektive erkenne, kann ich erahnen, dass jemand anderes eine andere Perspektive einnimmt.»

Kabinett: Videoarbeiten

Als inhaltlicher Beginn der Ausstellung dienen die drei Videoarbeiten im Kabinett. In «Meeting at the border (Les Verrières)» befindet sich die Künstlerin mit einer 360-Grad-Kamera in der politischen Gemeinde Les Verrières im Kanton Neuenburg, dem Schauplatz der Internierung der Bourbaki-Armee im Jahre 1871. Dieses Ereignis ist auf dem Bourbaki-Panorama dargestellt und verweist auf den Nimbus der Schweiz als humanitär helfende Nation. In einem transkribierten Gespräch mit einer älteren Bewohnerin werden die ideologischen Konflikte innerhalb der Gemeinde – die heutzutage ein Asylzentrum beherbergt – spürbar und die im Dorf überall sichtbaren Schlagworte Humanité – Hospitalité – Neutralitékritisch hinterfragt. Die Arbeit ist mit Videosequenzen vermischt, welche die Künstlerin behind the scene im Museum Bourbaki Panorama gedreht hat. Die Blicke hinter, vor und auf die Kulisse des historischen Rundgemäldes reflektieren den Grad der Romantisierung bezüglich des historischen Umgangs mit flüchtenden Menschen.

Symbolträchtig huscht eine Raupe mit einer weissen Friedensfahne durch die Projektion, bevor die Videoarbeit «Sketches on loving a family» den Fokus auf politische Differenzen innerhalb von Familien richtet. Nach der animierten Szenerie eines Waldkinos – worin Ausschnitte aus der US-amerikanischen Daily Show auf die politische Polarisierung verweisen – erzählen Personen aus diversen Kontexten von ihren persönlichen Erlebnissen mit den unterschiedlichen politischen Gesinnungen von Familienangehörigen. Die grafisch verfremdeten Menschen – stellenweise verformt oder verzerrt – reflektieren in den kurzen Interviews über ihre Strategien, wie mit den Konfliktsituationen umgegangen wird sowie den schmalen Grat zwischen liebevoller Familienzugehörigkeit und politischem Anderssein. 

Hauptraum: Subjektive Kartografie als Ausschnitt eines Denkhorizonts

«Was haben der intersektionale Feminismus oder das Prinzip von Eigentum mit der Schwierigkeit zu tun, saisonal einzukaufen? Oder warum tendiere ich dazu zu denken, dass ich recht habe?» Für ihre Ausstellung hat Olivia Abächerli eine subjektive Kartografie mit Kreidestiften auf vier Wandsegmenten entwickelt. Die Wandzeichnung – dimensional ein Viertel eines Panoramagemäldes – verfügt über einen Index mit 120 Begrifflichkeiten, Erläuterungen, Symbolen und Fragestellungen, welche die Künstlerin selbst entweder betreffen oder umtreiben. Dieser Ausschnitt eines zeitgenössischen Denkhorizonts präsentiert sich als sehr persönliches, exponiertes Spiegelbild des Innern der Künstlerin. Diese Art des kartographischen Zeichnens mit ihren jeweiligen inhaltlichen Korrespondenzen ist signifikant für ihre künstlerischen Arbeiten. So erforscht und kartografiert sie Zusammenhänge aus den Bereichen Soziologie, Kultur, Historie oder Umwelt.

Neben der Wandzeichnung gehören weitere Videoarbeiten, geätzte Kupferplatten, gefräste MDF-Boxen, Specksteine, bedruckte Teppiche oder tätowierte Orangen zur Ausstellung.  Arbeiten aus Kollaborationen mit Amélie Bodenmann, mit Line Rime und Isabella Beneduci sowie Objekte von Künstlerinnen aus ihrem Netzwerk – die ihre Arbeit und ihr Denken prägen – sind als symbolische Artefakte in die Ausstellung integriert: «Stone with Directions of Use» von Karen Amanda Moser oder «Wir wir, nehme ich an. Wie deine Freunde mit Fell, wie die Salamander drunten oder die Vögel drüben. Im Besitz von Sprache.» von Lulu & Whiskey. In einem Video spricht Olivia Abächerli mit ihrer als Katze animierten Schwester in einem halbstündigen, philosophischen ‘Nerd-Talk’ über menschliche Wissensaneignung, ethisch-moralische Grundsätze, globale politische Verhältnisse, Neutralität, Rechtspopulismus etc. Die tätowierten Orangen, deren Oberfläche der menschlichen Haut sehr nahekommt, fungieren als bewegliche, multiperspektive Wegweiser, während die gravierten Specksteine als Fixpunkte agieren.

Ihre multimediale Arbeit aus Texten, Video, Sound, Animation, Installationen und Objekten ist mit einer zeichnerischen Handschrift versehen, die auf das schnelle, prozesshafte, auf ein persönliches oder intimes Skizzieren hinweisen. Die zeichnerische Ebene steht demnach für einen intimen Blick auf das Recherchierte oder für einen sinnlichen Zugang zu komplexen Zusammenhängen. So kann Olivia Abächerlis Arbeit als Versuch gelesen werden, zeichnerisch Navigationssysteme zu entwickeln für die Orientierung in einer komplexen Realität, oder eher: in einer Vielfalt von Realitäten. Schlussendlich ist die Ausstellung «the center and the other» von Olivia Abächerli aber nicht nur ein Versuch, die Welt zu sortieren, sondern sie spricht auch von einem Gefühl der Überforderung: von einem in die Gegenwart übertragenen Schwindel, der einem überfällt, wenn man ganz nah vor einem Panorama steht – oder wenn wir die Gesamtheit der Welt sehen möchten. Die Ausstellung ist ein Exempel dafür, über die Singularität des Individuums nachzudenken und sich selbst innerhalb der Komplexität der Welt zu verorten.

 

Olivia Abächerli ist cis-weiblich, lesbisch, able-bodied und weiss (*1992 in Stans NW, aufgewachsen in Kerns OW, lebt und arbeitet in Bern). Sie absolvierte den Vorkurs an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. 2016 schloss sie ihren Bachelor in Fine Arts an der Hochschule der Künste in Bern (HKB) ab. Von 2017 bis 2019 absolvierte Olivia Abächerli den Master of Arts Practice am Dutch Art Institute in Arnhem NL. Anschliessend war sie von 2019 – 2021 Fellow der Sommerakademie Paul Klee. Für ihre künstlerische Arbeit und Recherche erhielt sie Preise und Förderungen der Kantone Obwalden und Nidwalden, Basel-Stadt und Bern, wie 2022 den Förderpreis des Aeschlimann Corti Stipendiums. Seit 2018 bildet sie – nebst ihrer individuellen Praxis, die aber immer auch vom sozialen Netz und Kontext geprägt ist – zusammen mit Amélie Bodenmann das Kollektiv DUELL. Von 2017 – 2020 co-leitete sie den Offspace CabaneB in Bern und seit 2021 organisiert sie FLINTA-Raves im Queerfeministischen Raum der Reitschule Bern.

für die unterstützung danken wir